Sektion 7

Sektion 7 | Ritual und Narrativ

PD Dr. Malte Völk (Zürich/CH)
Slices of Life – Alltag als Vignette in derivativer Fan-Fiction

Online publizierte Fan-Fiction – die Praxis des Umdichtens und Weitererzählens populärer Stoffe – bietet Reflexionen des Alltags, etwa wenn die Verfassenden in begleitenden Kommentaren aus ihrem Leben berichten oder alltägliche Begebenheiten in Neufassungen bekannter Werke einfließen lassen. Fan-Fiction ist aber auch selbst eine alltägliche Tätigkeit, denn erzeugt wird sie von Laien-Autor*innen, die zum Vergnügen als Frei- zeitgestaltung schreiben und lesen. Diesen Doppelzweig des Alltäglichen möchte ich untersuchen, und zwar anhand eines in dieser Hinsicht prägnanten Sub-Genres der Fan-Fiction, welches als „Slice of Life“ apostrophiert wird. Es handelt sich um kurze Erzählungen, die, scheinbar ohne dramaturgischen Ehrgeiz, ohne Vorantreiben von Handlung oder Dynamik, nur kurze Alltagsszenen mit den Figuren entwickeln. Slices of Life sind gerade wegen ihrer Alltäglichkeit beliebt: als „Vignetten“ bezeichnet man sie, als kurze Ausschnitte, „focused on these mundane, often forgettable, everyday moments“ (User „lulusgardenfli“ auf „fanfiction.net).

Diese ereignisarmen Geschichten entstehen besonders als kontrastierende Ergänzung spektakulärer Stoffe. Der Vortrag möchte exemplarisch solche Slices of Life analysieren, die sich auf die populäre Coming-of-Age-Erzählung „The Outsiders“ bezieht (Roman S. E. Hinton 1967, Film F. Ford Coppola 1983; weitere Adaptionen), die bis heute als Fan-Fiction floriert.

Folgende Fragen sollen bei der Analyse der Texte sowie der sie begleitenden Kommentare und Diskussionen der Nutzer*innen im Mittelpunt stehen:

  • Handelt es sich um eine Gegenbewegung zur Ästhetisierung des Alltags (vergleichbar etwa mit der anti-glamourösen Foto-App „BeReal“)?
  • Findet hier untergründig eine Idealisierung des Alltags statt, in der dieser zur Projektionsfläche für Sehnsüchte wird (Ruhe, Verlässlichkeit)?
  • Welche Rolle spielen die Fiktionalisierung und erzählerische Momente bei alldem?

Der Vortrag möchte diese Wechselwirkungen erarbeiten und analysieren, um sie in einen weiter gefassten Kontext der Reflexion des Alltagsbegriffs zu stellen.

 

PD Dr. Sebastian Dümling (Basel/CH)
Alltag Royal. Imaginationen des Monarchischen in der Populären Kultur

Der Vortrag widmet sich populärkulturellen Imaginationen monarchischer Alltage, d. h. jenen populären Erzähl- und Handlungsformaten, die sich Sujets adliger Alltage widmen. Unter Einsatz texthermeneutischer und ethno- graphischer Methoden sollen drei empirische Adelsalltage genauer vorgestellt werden: diskursiv-fiktionale (Disney/ Märchen-Dimension), diskursiv-faktuale (Boulevard-Dimension) sowie performativ- mimetische (Reenactment-Dimension).

Dabei geht der Vortrag, der im Kontext einer interdisziplinären Forschungsgruppe (DFG) steht, von einer Grundspannung aus: Das Monarchische, das für Nicht-Adelige gerade das Nicht-Alltägliche markiert, verweist auf eine soziale Anderwelt: Handlungen, die Akteur:innen im eigenen Alltag als „einströmendes ‚Datum‘“ (Schütz) erleben, werden im Populär-Monarchischen unter Alteritätsvorzeichen beobachtet: Kleidung tragen, Mahlzeiten einnehmen, andere begrüßen etc. Unproblematisch-vorreflexive Alltagshandlungen werden im monarchischen Populären so zu Alltagshandlungen zweiter Ordnung, das heißt, sie referenzieren ihre eigene Kontingenz und Gemachtheit: Wenn der Living-History-König Zähne putzt, ist das Zähneputzen im selben Moment Alltag als auch die Transzendierung der Alltäglichkeit; Akteur wie Publikum werden nämlich mit der Frage konfrontiert, wie ein König Zähne putzen muss, damit es alltäglich wirkt – und wie putze ich in meinem Alltag eigentlich meine Zähne? Das, was nach phänomenologischer Alltagskonzeption Alltäglichkeit suspendiert, nämlich ihre (Selbst-)Beobachtung, wird so zur Grundlage des Populär-Monarchischen, da es die Konstruktionsbedingungen des Alltagshandeln beobachten lässt.

Der Vortrag versucht entsprechend, populär-monarchische Alltage als imaginäre Institutionen zu verstehen, in denen sich Populäre Kultur und ihre Akteur:innen über das So-Sein wie Anders-möglich-Sein ihrer Alltäglichkeit verständigen. Das Populär-Monarchische bietet sich dafür an, weil es zentrale Ordnungseinheiten des Alltags in den Mittelpunkt stellt: (un-)persönliche Interaktionen, (un-)markierte Körper, (un-)hintergehbare Hierarchien.

Der Vortrag geht schließlich mittels der analytischen Verfremdungskategorie des Populär- Monarchischen der theoretischen Grundfrage nach, wie man den Alltag als „stets bereite Quelle von Selbstverständlichkeiten“ (Husserl) konzeptionell so fassen kann, dass er nicht mehr selbstverständlich ist.
[Der Teilbeitrag muss leider entfallen, 12.9.23.]

 

Sina Rieken M. A. (Cloppenburg)
Im Dorf berühmt: Der Alltag der Laienschauspieler*innen im Oldenburger Münsterland

In rural geprägten Communities ist der Alltag im Winter ein anderer als im Sommer und somit saisonal zu differenzieren. Nur im Winter spielt man im Oldenburger Münsterland Theater. Mehr als 50 Theatergruppen sind derzeit in den 23 Städten und Gemeinden der Landkreise Cloppenburg und Vechta aktiv – in fast jedem Ort wird oder wurde Theater gespielt. Die ehrenamtlich organisierten Laienbühnen sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts integraler Bestandteil des kulturellen Lebens in dieser landwirtschaftlich geprägten Region und strukturieren das soziale Miteinander sowie den Alltag der Beteiligten. Das traditionsreiche Hobby dient als Ausgleich zum Arbeits- alltag, ist gleichzeitig aber zeitaufwendig und verlangt ein hohes Maß an Engagement. Für die Aufführungen in den Wintermonaten beginnen die Vorbereitungen und Proben zwischen August und Oktober. Je nach Engagement und Aufgabe innerhalb der Gruppe sind die Mitglieder drei bis sechs Monate intensiv mit ihrem Hobby beschäftigt. Die Aufführungen sind durchweg gut besucht, was ihre Bedeutung für das soziale Leben in der Region unterstreicht. Den Mitgliedern der Theatergruppen kommt somit eine besondere Rolle innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft zu: Sie organisieren niedrigschwellige, kulturelle Unterhaltung und genießen durch das Auftreten auf einer Bühne einen gewissen Bekanntheitsgrad.

Im Rahmen eines Volontariats am Kulturanthropologischen Institut für das Oldenburger Münsterland beschäftige ich mich seit Januar 2022 mit dem Laientheater in den Landkreisen Cloppenburg und Vechta. Die Grundlage meiner Forschung bilden Interviews mit 25 Mitgliedern von 15 verschiedenen Laienbühnen sowie teilnehmende Beobachtungen bei Proben und Aufführungen. Die Interviews wurden qualitativ ausgewertet und geben unter anderem Aufschluss über den Ablauf einer Theatersaison und die gespielten Stücke, individuelle und kollektive Motivationen sowie organisatorische und demografische Herausforderungen.

Mein Vortrag erkundet, wie Laienschauspieler*innen aufgrund ihres Hobbys und der dadurch erhöhten gesell- schaftlichen Sichtbarkeit ihren Alltag erleben. Inwiefern verändern das Theaterspielen und das ehrenamtliche Engagement ihren Alltag? Welche Strategien entwickeln sie zur Bewältigung dieses „Theateralltags“ neben Beruf und Familie? Im Oldenburger Münsterland findet Laientheater zudem meist auf Plattdeutsch statt, was den Umgang mit Sprache auf und jenseits der Bühne zu einer weiteren Analysekategorie macht.

TU Dortmund

TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)
TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)

keuning haus

Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund
Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund