Phasen und Passagen
Dr. Anja Schwanhäußer (Göttingen)
Wendys Bro’s. Coming-of-Age auf einem Ponyhof
Die kulturalisierte Zeit der Adoleszenz verleiht der Gesellschaft einen (holprigen) Rhythmus. Unter den vielen populären Erzählungen des Erwachsenwerdens ist das Narrativ vom „Pferdemädchen“ besonders prägnant: Das Mädchen hat im Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter eine Phase, in der sie sich für Pferde als eine Art Ersatzobjekt interessiert, um sich hernach einem männlichen Partner zuzuwenden. Jüngere Kulturanalysen (Raulff, Probyn) hinterfragen diese Teleologie mit Verweis auf Diversität und Queerness. Die jugendliche Welt ist immer auch eine Welt mit eigener Zeitlichkeit.
Der Vortrag befasst sich mit der Aushandlung dieses Narrativs im Alltag auf der Basis einer einjährigen Feldforschung auf einem Reiterhof im Berliner Speckgürtel. Die Gruppe der dort ansässigen Mädchen nennt sich untereinander mit Referenz zur Popkultur „Bro’s“. Im Sinne von Paul Willis’ Begriff der soziosymbolischen Homologie ist ihr „horse craze“ (Freud) eine kreative Antwort und eine ästhetische „Lösung“ auf eine Vielzahl von Problemen, die das Mädchensein mit sich bringt. Populärkulturellen Texten (Maase) kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu, ebenso wie Sprichwörtern, Redeweisen, etc. Diese werden zur Ausgestaltung von Figuren (Ege), Beziehungen und „figured worlds“ (Holland, Lachicotte u. a.) auf dem Reiterhof herangezogen und dadurch wirksam.
Die These ist, dass der zeitliche Wandel jugendlichen Begehrens ein populärer Mythos (Barthes) ist, das heißt, er ist gesellschaftlich wirkmächtig. Somit geht es in dem Vortrag weniger um die Frage, ob, sondern wie er sich vollzieht und wie die Jugendlichen im Sinne von „agency“ diesen aktiv gestalten. Wie wird in dieser Jugendsubkultur mit zeitlichen Umbrüchen umgegangen? Welche Bedeutung hat diesbezüglich der „code of romance“ (McRobbie)? Welche Konflikte entstehen? Und in welcher Weise werden zeitliche Strukturen und Rhythmen gestaltet – Rhythmus verstanden nicht als einengend, sondern als befreiend, auf eine (bessere) Zukunft gerichtet?
Der Vortrag stellt Überlegungen und erste Ergebnisse des DFG-Forschungsprojekt „‚Pferdemädchen.‘ Struktur und Sinnlichkeit einer jugendkulturellen Figur“ vor, das an der Universität Göttingen angesiedelt ist. Ziel der Studie ist es, die Figur und die „figured world“ des Pferdemädchens nach eigenen Maßstäben zu erforschen. Der Vortrag gibt Anlass, die jungsdominierte Jugend- und Subkulturforschung auf das Thema Temporalität hin zu befragen.
Andrea Graf M. A. (Bonn)
Den Übergang feiern. Zeitvorstellungen im Junggesellinnen- und Junggesellenabschied
Der Lebenslauf teilt sich, auf individueller Ebene, in Phasen, die durch Übergänge verbunden sind. Neben dem Polterabend als Vorhochzeitsfeier etablierte sich seit Mitte der 1990er Jahre, angelehnt an internationale Feierformen wie Bacherlor(ette)party oder Hen and Stag Night der Junggesellinnen- und Junggesellenabschied, kurz JGA-Feier, als für Frauen und Männer getrennt gefeierter Abschied aus dem Ledigenstatus auch in Deutschland. Diese neue Ritualkultur im Kontext der Hochzeit verweist auf gesellschaftliche Veränderungen (der Lebens- und Arbeitsumstände, der sozialen Beziehungen sowie der gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen und Konventionen), die sich auf individuelle Alltagshandlungen auswirken.
Dabei kann eine doppelte Zeitlichkeit diagnostiziert werden: Zum einen die Zeitlichkeit des Rituals an sich, das sich gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und veränderten Bedürfnissen der Akteur*innen anpasst, auf sie unmittelbar reagiert und Bezüge einschreibt. Zum anderen wird das zunächst klassisch erscheinende Übergangsritual auf seine Zeitlichkeit als lebenslaufprägende Ordnungskategorie analysiert.
Die Hochzeit trennt formal den Familienstand ledig von verheiratet. Die JGA-Feier kann in diesem Kontext als ein Übergangsritual gedeutet werden, insofern als das in ihr Bezüge zur Vergangenheit ebenso aufgegriffen werden (Zusammensetzung der Feiernden, Thematisierung von Freiheit), wie zukünftige Rollenanforderungen (über Verkleidung und Spiele wird das Eheleben parodiert).
Mein Beitrag generiert sich aus dem empirischen Material meines Promotionsprojektes zur Feier des Junggesellinnen- und Junggesellenabschieds. Um den Blick auf die Temporalität zu richten, werden die qualitativen Interviews mit Teilnehmenden hinsichtlich der Zuschreibungen der Akteur*innen an die JGA-Feier als eine zeitliche Zäsur betrachtet.
PD Dr. Jens Wietschorke (Wien /AUT)
Tiefengeschichten der gesellschaftlichen Spaltung? Soziale Zeit und sozialer Raum in der neueren Autosoziobiografik
Seit einigen Jahren ist ein neues Erfolgsgenre auf dem Buchmarkt präsent: das Genre der „Autosoziobiographie“. Dabei handelt es sich um Texte von Bildungsaufsteiger*innen, die ihren Weg aus der Arbeiterklasse ins akademische Milieu nachzeichnen. Die Reihe der Beispiele mit Bestsellerstatus reicht von Annie Ernaux, Didier Eribon und Èdouard Louis in Frankreich, Sarah Smarsh, Tara Westover und J. D. Vance in den USA bis hin zu Daniela Dröscher oder Christian Baron in Deutschland. Ein Grund für diese Konjunktur liegt zweifelsohne im öffentlichen Diskurs über eine angebliche kulturelle Spaltung der Gesellschaft in „Anywheres“ und „Somewheres“, „Kosmopoliten“ und „Kommunitaristen“. Die Lebensberichte von Aufsteiger*innen scheinen besonders gut erklären zu können, wie es zu dieser Spaltung gekommen ist, weil ihre Erzählung beide soziokulturellen Pole miteinander verbindet; im Kontext aktueller Debatten um rechtspopulistische Wahlerfolge geht von ihnen das Versprechen aus, die drohende politische Dissoziation der Gesellschaft im Medium der Aufsteiger*innenerzählung durchleuchten zu können.
Zur Frage nach der Temporalität von Kultur kann der Blick auf die genannten Autosoziobiographien und die sie begleitenden Debatten insofern beitragen, als diese Texte sozusagen Tiefengeschichten der kulturellen Spaltung anbieten. Nicht ohne Grund ist die Sozialtheorie Pierre Bourdieus, die in sich historisch-genetisch angelegt ist und eine ausgeprägte Perspektive auf den zeitlichen Verlauf von Sozialisationsprozessen entwickelt, für viele Autor*innen ein zentraler Referenzpunkt. Die Bücher von Eribon, Louis oder Baron werden denn auch öffentlich als „Kollektivbiographien“ diskutiert; damit werden in der temporalen Struktur der auf das Heute verweisenden autobiographischen Erinnerung Genealogien der Gegenwart identifiziert. Die Narrative reichen – siehe das Beispiel Didier Eribons – bis in die unmittelbare Nachkriegszeit zurück und sollen den Schwenk von Teilen einer vormals links wählenden Arbeiter*innenklasse nach rechts erklären.
Der in der Diskurs- und Erzählforschung verortete Beitrag steht im Kontext einer größeren, durch die DFG mittels eines Heisenberg-Stipendium geförderten Forschung zur Diskursgeschichte der „Unterschicht“ bzw. der „einfachen Leute“. Durch die Fokussierung auf Verschränkungen von sozialer Zeit und sozialem Raum kann darüber hinausgehend auch das theoretische Potenzial temporaler Kategorien in der reflexiven sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung thematisiert werden.