Panel D | Gefühlsstrukturen als Begriff der Gesellschaftskritik? Zugänge zur (historischen) Kulturanalyse des Alltags
Organisation und Leitung: Olga Reznikova M. A. (Zürich/CH),
Dr. Helen Ahner (Berlin)
Was haben alltägliche Gefühle mit Konjunkturen, Kultur (im Sinne der Cultural Studies) und Gesellschaft zu tun? – Dieses Panel stellt das Konzept der Gefühlsstrukturen in den Mittelpunkt, lotet seine theoretischen Implikationen aus und erprobt es an empirischem Material: Es untersucht Gefühlsstrukturen als Vermittlungsinstanz, die Mikro-, Meso- und Makro-Ebenen eines (historischen) Moments verbindet und ermöglicht, ausgehend von alltäglichen Gefühlen gesellschaftliche Verhältnisse zu verstehen.
Mit dem Konzept Gefühlsstrukturen verweist Raymond Williams auf die historische Gewordenheit von alltäglichen, oft unterschwelligen Gefühlen und beschreibt deren Verbindung mit gesellschaftlicher Materialität. Gefühlsstruktu- ren schlagen sich in alltäglichen Praktiken, Medien, Erzählungen und Ästhetiken nieder – ihre Analyse erlaubt Aussagen über gesellschaftliche Umstände. Vor diesem Hintergrund diskutiert das Panel auch den Gesellschafts- begriff der EKW, die Möglichkeiten, mithilfe ethnografischen Rüstzeugs zeitdiagnostische Aussagen zu machen und den Nutzen des Konzepts aus marxistischer, affekttheoretischer und phänomenologischer Perspektive.
Die Einzelbeiträge analysieren Gefühlsstrukturen unterschiedlicher historischer Momente, fragen, wie sie sich im Alltag bemerkbar mach(t)en und knüpfen an Vorüberlegungen im Fach an (Ege, Wellgraf). Außerdem stehen der Nutzen des Konzepts für kulturanalytische Gesellschaftskritik und die damit verbundenen methodologischen Herausforderungen zur Diskussion.
Olga Reznikova M. A. (Zürich/CH)
Sentimentalität der Gauner-Lieder – zur Gefühlsstruktur des russischen Faschismus
Was kann die Analyse eines populären Musikgenres zum Verständnis des gegenwärtigen russischen Faschismus beitragen? Der historische Wandel von Kleinkriminellen-Straßenmusik und ethnografisches Material aus einem russischsprachigen Viertel in New York, wo das Genre in den 1990er Jahren geformt wurde, beleuchten die Gefühlsstruktur der präfaschistischen Gesellschaft. Der Vortrag setzt sich mit dem Potenzial der Zeitdiagnose (in Form von Ideologie- und Kulturkritik) und mit der Analyse der Kräfteverhältnisse auseinander. Er fragt zudem nach erkenntnistheoretischen und methodologischen Zugängen für kulturwissenschaftliche Gesellschaftskritik.
Dr. Helen Ahner (Berlin)
Feministische Gefühlsstrukturen – weiblicher* Ehrgeiz im Sport
Während der Ehrgeiz von Athletinnen* in den 1920er Jahren als potenziell gefährlich kritisiert wurde, gilt Ehrgeiz heute oft als besonders weibliche Emotion – man denke an Sozialfiguren wie thatgirl oder girlboss. Die Erfahrung des Ehrgeizes und seine gesellschaftliche Verhandlung fungier(t)en auch als Ressource für feministische Kämpfe. Dieser Beitrag wendet das Konzept Gefühlsstruktur im Rahmen einer historischen Kulturanalyse an, widmet sich erkenntnistheoretisch dem Verhältnis von Gefühlsstruktur und Erfahrung und fragt nach den Möglichkeiten des Konzepts, gesellschaftliche Entwicklungen über größere Zeiträume hinweg zu beschreiben.
Dr. Alexandra Rau (München)
Weibliche Altersarmut – die gesellschaftlichen Verhältnisse von Scham und Scheitern
Wie hängen die kollektiv geteilten Gefühle des Scheiterns sowie der Scham von in Altersarmut lebenden Frauen und der Verzicht auf kollektives Handeln zusammen? Mithilfe affekttheoretischer Perspektiven fokussiert der Beitrag Erfahrungen prekären weiblichen Alterns im Neoliberalismus. Die empirische Analyse zeigt, wie Scham im Feld weiblicher Altersarmut Individuen abwertet und verstummen lässt, wie das Schweigen das altersarme Subjekt vereinzelt und schließlich eine kollektive Mobilisierung Betroffener verunmöglicht – was Ausdruck gegenwärtiger Gefühlsstrukturen ist.
Tim Schumacher M. A.
Solidarische Fürsorge in der Geflüchtetenhilfe – Emotionspraktiken und Gefühlsstrukturen
Im Zentrum der Mobilisierung der Millionen Menschen, die sich 2015 für neu angekommene Migrant:innen einsetzten, standen Praktiken der solidarischen Fürsorge mit ihrer affektiven Qualität. Die massenhafte Empathie, die den Geflüchteten entgegengebracht wurde, stellte die Gefühlsstruktur der emotionalen Distanz, mit der der staatlich organisierte Ausschluss des europäischen Grenzregimes einherging, praktisch infrage. Wie lässt sich das im Fach viel genutzte Konzept der Emotionspraktiken zu übergeordneten Gefühlsstrukturen ins Verhältnis setzen?
[Der Teilbeitrag muss leider entfallen, 31.7.23]
PD Dr. Jens Wietschorke (München, Wien/AUT)
Figuren und Figurationen der 1920er Jahre – ein zeitdiagnostisches Experiment
Wie kann eine Kulturanalyse vorgehen, die versucht, aus dominanten Sozialcharakteren und Gefühlsstrukturen das Bild eines historischen Moments zu zeichnen? Der Beitrag setzt sich mit epistemologischen, heuristischen und methodologischen Prinzipien der Kulturanalyse auseinander und befragt das zeitdiagnostische Potenzial der Konzepte social character und structure of feeling (Williams). Anhand von Überlegungen zur conjunctural analysis der frühen 1920er Jahre in Deutschland werden die damit verbundenen Probleme des Theorie-Empirie-Verhältnisses diskutiert.