Panel F | Textile Alltagkultur(en) erforschen
Organisation: Dr. Stefanie Samida (Oldenburg/Heidelberg),
Lüder Tietz (Oldenburg)
Als Alltag, so ist in der Ausschreibung zum 44. Kongress der DGEKW zu lesen, ist landläufig der „selbst- verständliche, unhinterfragte Teil“ unseres Lebens zu verstehen. Und die Empirische Kulturwissenschaft ist zweifellos eine der zentralen Wissenschaften der ‚Alltagskulturforschung‘ – ein Begriff, der auch in der Namens- debatte zur Umbenennung der Gesellschaft vereinzelt auftauchte. Obwohl wir uns im Alltag dem Textilen nicht entziehen können – schließlich gehen wir täglich angezogen aus dem Haus, Kleidung bildet unsere ‚zweite Haut‘ –, ist die Beschäftigung mit textilen Alltagskulturen im Rahmen der ‚Alltagskulturforschung‘ als marginal einzustufen. Das zeigt auch ein Blick in die universitäre Alltagkultur des Faches, das nur wenige Standorte mit einem Schwer- punkt textiler Alltagskultur(en) ausweist, von denen einige wiederum dezidiert kulturwissenschaftlich-orientierte Lehramtsstudiengänge wie „Textiles Gestalten“ (bzw. ähnliche Bezeichnungen in verschiedenen Bundesländern) anbieten. Die Forschung und Lehre an diesen kulturwissenschaftlich arbeitenden ‚Textil‘-Standorten wird jedoch oftmals übersehen. Dabei ist die Kulturwissenschaft bzw. Kulturanthropologie des Textilen ein multidimensionales Feld, das sich unter anderem visuellen und ästhetischen Prozessen widmet, Mentalitäten und Machtverhältnisse in den Blick nimmt, Fragen zu Identität, Körper und Geschlecht stellt sowie soziale Positionen, Milieus und Lebens- stile zu erschließen sucht oder kurz: den (textilen) Alltag erforscht. Mit dem Panel möchten wir nicht nur die Aufmerksamkeit auf eine der ‚schönsten Nebensachen‘ der EKW lenken, sondern den vielfältigen Verschränkungen und Interdependenzen nachspüren. Anhand von vier Beiträgen und einer Einleitung des Organisationsteams rücken wir die Kulturwissenschaft bzw. Kulturanthropologie des Textilen ins Zentrum und gehen auf alltagskulturelle Tuchfühlung. Wir nehmen dabei die Herausforderungen dieses Feldes in den Blick und arbeiten das transdiziplinäre Potential von Themen textiler Alltagskultur(en) heraus – sowohl empirisch gesättigt als auch konzeptuell-theoretisch orientiert.
Dr. Heike Derwanz (Wien/AUT)
Alltag im Prozess – Minimalistischer Umgang mit Kleidung im Zeitalter der Fast Fashion
Den eigenen Alltag selbst zu verändern, ohne dass dies neue Lebensumstände tun, ist schwer. Wie kann eine Veränderung selbstbestimmt herbeigeführt werden? Wie können Selbstverständlichkeiten und Routinen durch- brochen und ersetzt werden? Der Vortrag möchte anhand einer empirischen Forschung mit Minimalist*innen diesen Fragen nachspüren. Denn Minimalist*innen machen sich auf „ihren Weg“, auf dem sie nicht nur über die Dingwelt ihre Beziehungen zur Welt verändern, sondern auch über das Aussortieren, Durchzählen, Ordnen und Neustrukturieren. Diese zentralen Praktiken haben in den letzten Jahren in der Ratgeberliteratur, über Dokumentar- serien im Fernsehen und sogar Kinofilme bei immer mehr Menschen in der Überflussgesellschaft ein sehr großes Interesse geweckt. Der Wunsch, damit den eigenen Alltag zu verändern, scheint groß. Die Datengrundlage für den Vortrag liefert das ethnographische Forschungsprojekt „Textil-Minimalist*innen – Pioniere nachhaltiger Praxis“, das von 2018 bis 2021 durchgeführt wurde. Es stützt sich auf Kleiderschrankinterviews, die im Beisein der Dinge zu einer Präsentation und gleichzeitig intensiven Reflexion der Alltagspraktiken mit Kleidung anregten.
Dr. Melanie Haller (Paderborn)
#outfit of the day: Zur Präsenz alltäglicher Kleidungspraxis in Anti-Moden Kulturen
Im letzten Jahrzehnt lassen sich in den verschiedenen Social Media-Formaten zunehmend mehr Praktiken wahrnehmen, die im Alltag zu verorten sind – aufzufinden über die vielfältigen Hashtags, die das Netz täglich neu bildet. Das scheinbar Alltägliche hat damit eine öffentliche Präsenz wie nie zuvor. Dies betrifft vor allem auch mannigfaltige Praktiken, welche die ästhetische Gestaltung von Körpern umfassen und damit auch Kleidung. Wahrnehmbar sind Fotografien alltäglicher ‚Outfits‘ und vor allem Videos /Reels vom Ankleiden des ‚Outfits of the day‘. Der Hashtag #ootd hat allein auf Instagram 413 Millionen Beiträge – davon neben professionellen auch eine Vielfalt von privaten Nutzern in Anti-Mode Kulturen. Der Vortrag möchte diese Social Media-Praxis als eine für die empirische Kulturwissenschaft lohnende zeitgenössische textile Alltagskultur vorstellen und modesoziologisch kontextualisieren.
Prof. Dr. Lioba Keller-Drescher (Münster)
Drei Perspektiven der textilen Sammlungsforschung
Der Panelbeitrag möchte ausgehend vom Kooperationsprojekt Textilland/Landtextil (LWL-Freilichtmuseum Detmold, Westfälisches Landesmuseum für Alltagskultur und dem Institut für Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie der Universität Münster) den Forschungsperspektiven auf textile Sammlungsbereiche in Alltags- kulturmuseen nachgehen. Er fragt danach, welche Aspekte von textilbezogenem Alltag in dreifacher Perspektive (1) als historische Sammlungspraxis in Alltagskulturmuseen, (2) als implizite Logik von angenommenem Nutzungsalltag und (3) als realem Produktionsalltag erforschbar gemacht werden können.
Prof. Dr. Kerstin Kraft (Paderborn)
GFSF Gute Falten, Schlechte Falten – Über textile und vestimentäre Praktiken im Alltag
Die Kulturwissenschaft der Mode, der Kleidung und des Textilen umfasst ein sehr weites Gebiet, das sich nicht ausschließlich der materiellen Kultur zuordnen lässt. Dies wird besonders deutlich, wenn textile Grundphänomene identifiziert (Falte, Muster, Schnitt) und ihnen Handlungen, Techniken und Denkweisen zugeordnet werden.
Das, was ich als Textiles Handeln bezeichne, umfasst bezogen auf die Alltagskultur unseren täglichen Umgang mit Textilien, ist entsprechend wandelbar und beschränkt sich nicht auf das An- und Ausziehen, sondern schließt jeglichen Kontakt mit Textilien ein, wie das Abtrocknen der Hände oder das Bügeln von Wäsche.
Im Vortrag soll jedoch nicht die Kulturgeschichte des Bügelns erzählt, sondern die Falte als Denkfigur genutzt werden. Diese kann einerseits dazu dienen, die textil-gegenständliche Falte auf andere Phänomene zu übertragen und als Gestaltungsprinzip in Geologie, Architektur, Literatur u. v. a. m. zu identifizieren und andererseits, bezogen auf die uns umgebende textile Alltagskultur, unser Handeln zu leiten und gute von schlechten Falten zu unterscheiden.