Eröffnungsvortrag
Prof. Dr. Bernhard Tschofen (Zürich /CH)
Alltag – gewohnt oder gewöhnlich? Eine Spurensuche in prospektiver Absicht
Alltag ist ein historisch situiertes Konzept, das Wissenschaft und Gesellschaft seit nunmehr rund einem halben Jahrhundert verstärkt beschäftigt. Um es in seinen Konjunkturen zu verstehen, bedarf es (L. Grossberg folgend) der Kontextualisierung und der Vermessung der Beziehungen seiner widersprüchlichen und „ungleichzeitigen“ Elemente. Die 1970er und 1980er Jahre sind nicht nur eine Epoche der wissenschaftlichen Entdeckung des Alltags, sondern auch markiert von mehr oder weniger expliziten Bezugnahmen auf Alltag in der Populärkultur.
Nicht zuletzt die Lektüre von Philipp Sarasins „1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ zeigt, dass die deutschsprachige Alltagsdebatte der 1970er und 80er Jahre bislang zu wenig in der Perspektive der Krise gelesen und daher vorschnell die Nähe zu Routine und lebensweltlicher Sicherheit gesehen worden ist. Dies gibt Anlass, ausgehend von einer Spurensuche im Jahr 1978 – dem Jahr u. a. des Erscheinens von Ina-Maria Greverus’ „Kultur und Alltagswelt“ und Utz Jeggles „Alltag“ (in den „Grundzügen der Volkskunde“) – dieses fach- und wissens- geschichtliche Momentum noch einmal eingehender zu befragen. Exemplarisch soll dafür die im selben Jahr in Zürich erfolgte Gründung der Zeitschrift „Der Alltag. Sensationsblatt des Gewöhnlichen“ in den Blick genommen und mit zeitgenössischen Positionen – u. a. Henri Lefebvres – und Stimmungen korreliert werden. Der Vortrag folgt dabei einer These in Bezug auf die zwei grossen (freilich zusammenhängenden) Modernisierungs- narrative der volkskundlichen Kulturwissenschaft: erweiterter Kulturbegriff und Hinwendung zum Alltag. Er fragt, ob nicht ersteres mehr nach innen wirkte, der innerfachlichen epistemischen Erneuerung diente, aber erst zweiteres auch die Neuerfindung des Faches in Beziehung zu Gesellschaft und Öffentlichkeit ermöglichte.
Mit Blick auf die den Kongress unter anderen anleitenden Fragen nach den (wissenschafts-)politischen Implikationen einer Beschäftigung mit Alltag diskutiert der Vortrag diese vermutet vernachlässigten Potentiale. Er skizziert Ideen zu Alltag als einem facettenreichen und flexiblen Wissensmodus der Populärkultur und will damit nicht zuletzt einen Beitrag zu Reflexion disziplinärer Verständnisse und Feldbeziehungen leisten. Denn die Wiederbeschäftigung mit Alltag ist heute mehr denn je mit der brennend politischen Frage verbunden, wie man mit dem Gewöhnlichen Ungewohntes möglich machen kann.