Plenarvortrag IV
Prof. Dr. Mirko Uhlig (Mainz)
Die Ontologie des Alltags. Überlegungen zu einer neo-realistischen Kulturanalyse
Seit knapp zehn Jahren wird sowohl in akademischen als auch in feuilletonistischen Zusammenhängen der „Neue Realismus“ diskutiert. Er gilt als erkenntnistheoretischer Gegenentwurf zu postmodernen Ansätzen. Charakteris- tisch ist die – vordergründige – Abkehr von hermeneutischen Zugängen bei gleichzeitiger Stärkung ontologischer Programme als Analysen des Existierenden. Die Vertreter:innen des „Neuen Realismus“ verpflichten sich auf eine dezidierte Trennung zwischen „dem, was ist, und dem, was wir von dem, was ist, wissen“ (Ferraris 2014, 30). Die Rehabilitation des Tatsachenbegriffs und objektiver Wahrheitsansprüche steht dabei im Zentrum.
In den kulturanthropologischen Theoriendiskussionen wurde den zeitgenössischen neo-realistischen Arbeiten bislang keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Auch in den auf den ersten Blick einschlägigen ethnologischen Debatten im Zuge des „Ontological Turn“ (z. B. Holbraad, Pedersen, Viveiros de Castro) sind sie unterrepräsentiert – was überrascht, ist es doch das ausgewiesene Anliegen des Ontological Turn, ontologische Fragen zur Lösung epistemologischer Probleme zu bemühen.
Mit meinem Beitrag verfolge ich das Ziel, zunächst einen gestrafften Überblick über den zeitgenössischen „postkontinentalen Realismus“ (Castro 2022) zu geben, um dann herauszuarbeiten, welche Angebote des „Neuen Realismus“ sich für eine zeitgenössische Alltagskulturforschung fruchtbar machen lassen. Dafür nutze ich Beispiele aus der Erforschung heterodoxer Sinnentwürfe und Praxen. Bei diesem Sondierungsversuch konzentriere ich mich auf die „Sinnfeldontologie“ (als Sozialontologie), wie sie Markus Gabriel entwickelt hat. Einerseits impliziert sie die Dringlichkeit und Notwendigkeit der Kulturanalyse, rüttelt andererseits aber auch an paradigma- tischen Grundsäulen, denn der „Neue Realismus“ weist (sozial-)konstruktivistische Ansätze und die damit in Verbindung gebrachte „Gleichwertigkeitsdoktrin“ (Boghossian 2013, 10) rigoros zurück. Was aber ist die Alternative? Wie können wir als Deutungswissenschaftler: innen die unterbreiteten Angebote für die Analyse des Alltags konstruktiv nutzen? Und wie verhalten wir uns zum explizit normativen Anspruch einer „Neuen Aufklärung“?