Sektion 1 | Alltage kuratieren
Mag. Anita Niegelhell MA (Graz /AUT), Dr. Birgit Johler (Graz /AUT)
Beispiel Volkskundemuseum: Einladung zur Erweiterung des (Alltags-)Wissens
Die 2021 eröffnete semi-permanente Ausstellung „Welten, Wandel, Perspektiven“ im Volkskundemuseum Graz beschäftigt sich mit Menschen, ihren Lebenswelten und ihrem Handeln in Zeiten von Veränderung, sozialem Wandel und Krisen. Unter anderem werden in der Steiermark gegenwärtig verankerte Selbstbilder wie das Land als „Mobilitätsregion“, „Bildungsregion“ oder auch als „Feinkostladen Österreichs“ kulturanalytisch dimensioniert und dabei ihre Relevanz für den wirtschaftlichen, sozialen, politischen wie auch individuellen Alltag historisch wie gegenwärtig analysiert und in der Ausstellung repräsentiert – etwa am Beispiel eines „alltäglichen“ Kernobsts wie dem Apfel.
In unserem Vortrag reflektieren wir ein für das Frühjahr 2023 angesetztes vermittlerisches Format, das wir als Experiment begreifen: Angeregt durch die Ausstellung wollen wir mit einer bewusst heterogen ausgewählten Gruppe und in einem spezifischen Setting in der Ausstellung über das Thema Nahrungsmittelkonsum und Ernährung dem Sprechen über Alltagshandlungen und -erfahrungen Raum geben. Im Akt des Sprechens und des Austauschs entstehen temporäre Gemeinschaften (Landkammer, 2021), in welchen differente Erfahrungen artikuliert und erweitertes Wissen generiert wird. Das Museum funktioniert dabei als contact zone (Clifford, 1997), gegebenenfalls auch als conflict zone (Lynch, 2013). Hierfür bietet sich die Kategorie des Alltags als Gesprächs- feld insofern an, weil sie jede/n betrifft und zunächst unverdächtig daher kommt. Im Sprechen, im Dialog kann ein Einander-Begleiten in der Bedeutungsfindung (Schultheis, 2013) von Erzählungen entstehen. Damit werden gerade jene Möglichkeiten eines erhellenden Kontakts aufgemacht, der auf die anthropologischen ‚Tugenden‘ responsibility und reciprocity (Seth/Engle Merry, 2010) setzt.
Das Format soll im besten Fall dazu beitragen, Alltagshandeln von Menschen, ihre alltäglichen Erfahrungs- und Erwartungshorizonte im Museum vielschichtiger zu repräsentieren – auch um der mit volkskundlichen Museen immer wieder assoziierten Fantasie, der Sehnsucht nach homogenen Gesellschaftsbildern nach wie vor anzuhängen, entgegen zu treten. Geprüft werden soll weiters sein Potenzial, neue Verhältnisse in den kommunikativen Beziehungen im Museum herzustellen und zur Beweglichkeit der Subjektpositionen von „Kuratori*in“ und/oder „Vermittler*in“ beizutragen. Ebenso fragen wir, inwieweit der mitunter wenig geliebte Alltags-Begriff dem Museum als analytische Kategorie für die Konzeption von Inhalten und deren Vermittlung (wieder) fruchtbringend zugeführt werden kann.
Timotheus Kartmann M. A. (Frankfurt /M.)
Soziale Museologie als Wissensproduktion des Alltags über sich selbst
Das soziale Museum Frankfurt war ein institutionalisierter Versuch mit Anbruch des 20. Jahrhunderts, nicht nur eine Antwort auf die soziale Frage zu entwickeln, sondern vielmehr ein Instrument zu schaffen, um die soziale Frage richtig zu stellen. Als forschende Wohlfahrtsorganisation hatte es wenig mit einem bürgerlichen Museum des 19. Jahrhunderts zu tun und stand eher gegenwärtigen museologischen Ansätzen einer Citizen Science näher. In der praktischen sozialpolitischen Ausrichtung zur Besserung der Lage der Arbeiter_innen, ging es über jüngste Tendenzen partizipativer Museumspädagogik weit hinaus. Im Rahmen meiner Dissertation, die sich als Beitrag zu einer kritischen Governanceforschung zur Wissensgesellschaft (vgl. Junge 2008) am Gegenstand sozialer Museen und der sozialen Museologie versteht, spielt die Objektivierung, Erforschung und Inszenierung von Alltagen im Kontext von Stadtlaboren und Ausstellungsformaten im Format urbaner Reallabore eine zentrale Rolle. In meiner praxistheoretischen Untersuchung der Erzeugung von Wissen zivilgesellschaftlicher Akteure im Sinne einer „Dialektik epistemischer Praktiken“ (Beck 2011) tritt Alltäglichkeit und ihre Musealisierung als kokonstruktive Relation zutage. Im Anschluss an Laborstudien zu Wissenskulturen (Knorr Cetina 1981; Latour/Woolgar 1979; Rheinberger 2019), Denkkollektiven (Fleck 1980) und an eine europäisch-ethnologische/ kulturanthropologische Wissensforschung (Koch/Warneken 2012; Beck 2000) lassen sich weitgehende Überschneidungen aufweisen zwischen Konzeptionen des Sozialen, der Gegenwart und dem, was als Alltag begriffen wird.
Den Problemen einer postfordistisch-neoliberalen Migrationsgesellschaft mit zunehmender alltäglich verstegtigter Armut und wachsenden Sektoren prekärer Beschäftigungsverhältnisse ist – so meine These – nicht allein mit den Mitteln einer aktualisierten Museumspädagogik oder mit bottom-up Ansätzen in den Alltagswissenschaften beizu- kommen. Echte Bürger_innenbeteiligung in Fragen der Ausgrenzung und Inklusion, der Stadt- und Raumplanung und Lebensqualität aber auch echte Partizipation in der Gestaltung von Arbeitswelten, Entscheidungen von Gesundheits- und Klimagerechtigkeit, digitaler, materieller und kultureller Teilhabe sowie insbesondere ökonomischer Gerechtigkeit und angemessener Wohnverhältnisse, sind in der überwiegenden Mehrheit kommunaler Partizipationsbestrebungen der letzten 30 Jahre vernachlässigt worden. Daher widmet sich meine Forschung der Geschichte des sozialen Museums als wissenschaftlich-politisches Labor und dem Diskurs der Soziomuseologie in seiner tiefen Verankerung in sozialen Bewegungen. Soziomuseologie, Urbanes Labor, Wissensproduktion.
Dr. Michael Schimek (Cloppenburg)
Der Alltag der Anderen – Freilichtmuseen als Alltagsübersetzer
Freilichtmuseen sind Alltags-Museen. Seit mehr als 100 Jahren sammeln und erforschen sie mit großem Aufwand Gegenstände des Alltags, darunter historische Gebäude, die als exponierte Großobjekte diesen Museumstypus besonders kennzeichnen. Ohne dass der frühen Freilichtmuseumsarbeit „Alltag“ als erkenntnisleitendes Konzept bewusst zugrunde gelegt wurde, gewähren Freilichtmuseen aufgrund der ihnen von Anfang an eigentümlichen sogenannten ganzheitlichen Präsentationsweise auf ebenso anschauliche wie wohl gerade deshalb attraktive Weise Einblicke in diverse Alltage. Sie zeigen anhand der „lebensecht“ eingerichteten historischen Gebäude, wie Menschen – Reiche und Arme, Junge und Alte, Männer, Frauen, Kinder – oftmals zusammen mit Tieren – gearbeitet, gewirtschaftet, gewohnt, aber auch ihre Freizeit verbracht und gefeiert, kurzum: gelebt haben. Seit Jahren zählen Freilichtmuseen regelmäßig zu den bestbesuchten Kultur- und Freizeiteinrichtungen, obwohl oder weil sie „nur“ Alltägliches zeigen. Da sie jedoch Alltage der ferneren sowie – inzwischen vermehrt – der jüngeren und jüngsten Vergangenheit zeigen, die sich zudem in aller Regel auf die ländlichen Räume beziehen, handelt es sich für die allermeisten Besucher: innen um die mehr oder weniger fremden Alltage Anderer. So gesehen erbringen Freilichtmuseen in einer immer arbeitsteiliger organisierten und individualisierter agierenden Gesellschaft eine wertvolle Übersetzungsleistung, indem sie versuchen, fremde Alltage transparent und damit das eigene Alltagsleben sichtbar zu machen.
Darüber hinaus formen Freilichtmuseen ihre eigenen Alltage nicht nur als Arbeitsorte der verschiedensten Mitarbeitenden, sondern auch als besonderer Aktionsraum für ihr immer diverser werdendes Publikum, das die populären Einrichtungen als außeralltägliche Erlebnisorte auf vielfache Weise nutzt.
Der Vortrag will auf Grundlage freilichtmusealer Präsentations-Beispiele sowie einer durchzuführenden Erhebung vorstellen, welche Alltage Freilichtmuseen auf welcher wissenschaftlichen Grundlage in welcher Art und Weise mit welchen Zielen und Ergebnissen erforschen und ausstellen. Letztlich geht es um die Frage, wie weit und wohin das seit den 1970er Jahren als erkenntnisleitendes Konzept bewusst verfolgte Alltags- Konzept Freilichtmuseen trägt.