Sektion 2 | Räumliche Strukturierungen
Patrick Bieler M. A. (Berlin)
BioÖkologien des Begegnens: Zur relationalen Konstitution urbanen Lebens und psychischer Gesundheit
Die psychiatrische Forschung hat die These, dass urbanes Leben eine grundlegende Ursache psychischer Gesundheitsrisiken darstellt, anhand empirischer Forschungen verfestigt (Vassos u. a. 2012). Die Geistes- und Sozialwissenschaften interessieren sich insbesondere für diese Kausalitätshypothese, weil sich die Frage aufdrängt, wie Kultur „unter die Haut“ geht (Bieler/Niewöhner 2018). Damit rücken komplexe urbane Alltags- dynamiken in den Blick der Forschung, deren Entstehen und Wirken empirisch nachgezeichnet und analytisch gegriffen werden können (Winz/Söderström 2021).
Im Gegensatz zu psychiatrischen Forschungsansätzen, die auf den Nachweis kausaler Wirkungen isolierter Variablen abzielen, setzen die Geistes- und Sozialwissenschaften „den Organismus – den Menschen – zurück in das zwischenmenschliche, kulturelle und physische Milieu, in dem er sich entwickelt hat“ (Rose 2019, 114; Übersetzung PB). Mit einem solchen relational-ökologischen Forschungsansatz wird gleichsam das Ziel verfolgt, über Dekonstruktion hinausgehend einen Beitrag zu interdisziplinärem Austausch zu leisten, indem die Komplexität von Mensch-Umwelt Verhältnissen durch theoretische und methodologische Reflexionen greifbar gemacht wird (Fitzgerald u. a. 2016; Manning u. a. 2022).
An dieser Zielstellung ansetzend diskutiere ich im hiesigen Vortrag, wie mit dem Begriff der Begegnung (Dirksmeier u. a. 2011; Färber/Derwanz 2021) die Verflechtungen von psychischer Gesundheit und urbanem Leben anhand der Beobachtung alltäglicher Aktivitäten analysiert werden können (Bieler 2021). Meine Argumentation basiert auf zwei ethnografischen Fallstudien, in denen ich unter anderem (1) go-alongs mit Menschen mit schweren psychischen Problemen in einem Berliner Bezirk durchführte und (2) Anwohner*innen einer einzelnen Straße in Berlin über die Bedingungen ihres Wohlbefindens interviewte.
Ich werde zeigen, dass mit einem Fokus auf Prozesse des Begegnens urbane Beziehungen in den Blick geraten, die der psychiatrischen Forschung aufgrund ihrer Flüchtigkeit entgehen. Außerdem argumentiere ich, dass begegnungszentrierte Untersuchungen nicht nur die Relevanz zwischenmenschlicher Interaktionen, sondern auch die von diversen materiellen und symbolischen Elementen, erfassen können. Entsprechend ausgerichtete Ethnografie weist als „Empirie-Theorie-Nexus“ (Knecht 2012, 245) ein immenses Potenzial auf, die psychiatrische Forschung – und allgemeiner epidemiologische Wissensproduktion – produktiv zu informieren (Roberts 2021).
Dr. Christine Neubert (Hamburg)
Gewohnt verhandelter Alltag. Baustellen in Städten
Ausgangspunkt meiner ethnografischen Baustellenforschung ist die Frage, wie Menschen es trotz allgegen- wärtiger Störung durch Baumaßnahmen im urbanen Raum gelingt, ihren Alltag zu vollziehen, zu gestalten und ihn, wenn nötig, (spontan) anzupassen. Baustellen in Städten sind für mich das forschungspraktische Vehikel, um Alltag ‚in Bewegung‘ zu beobachten und die spezifische Begegnung zwischen Baufeld und dessen Umfeld genauer zu verstehen. Basierend auf einem praxistheoretischen Denkansatz verstehe ich ‚Alltag‘ als ein Gefüge verketteter sozialer Praktiken, die wiederum verortete, sozio-materielle Aktivitäten beschreiben. Die gewohnte Verortung und Räume alltäglicher Praktiken (das geparkte Auto, der Weg zur Arbeit mit dem Rad, das Kaffee trinken auf dem Balkon) wird durch Baustellen, die im öffentlichen Raum ‚Platz nehmen‘, irritiert und beeinträchtigt. Eine Möglichkeit, mit diesen disruptiven Momenten städtischen Lebens umzugehen, ist, mit Baustellen in einen offenen und kontinuierlichen Verhandlungsprozess zu treten. Basierend auf ethnografischen Daten (Beobachtungs- protokolle, Verfahrensdokumente, Experten-Interviews), die ich während der Begleitung einer Straßensanierung in Hamburg (Feb –Dez 2022) erhoben habe, entwickle ich im Vortrag ein Verständnis von Baustelle als soziale Praxis, die Verhandlungsspielraum zwischen vermittelten Praktiken des Baufelds und dessen Umfeld zulässt. Praktiken sind solche des menschlichen Alltags als auch Praktiken des Wohnens und der Territorialisierung von Tieren und Pflanzen, hier zwei Beispiele: Etwa vermittelt Kies, der als Baumaterial an den Gehwegen lagert, zwischen Arbeiten im Baufeld und Hunden, die damit spielen oder Revier markieren. Ebenso werden Territorialisierungspraktiken des Straßenbaums anhand unbeugsamer Wurzelballen oder nicht versetzbarer Starkwurzeln Teil der Baustellen-Praxis. Hier muss ebenso wie mit Anwohnenden oder Gewerbeeinheiten in Verhandlung getreten werden, um weiterbauen zu können. Dies ist nicht nur für eine gelingende Baustelle zentral, sondern auch für einen guten Alltag in Städten. Wie sich diese Verhandlung im Zuge von Baumaßnahmen anhand alltäglicher Praktiken von Menschen, Flora und Fauna vollzieht und welche Machtressourcen dabei einzelnen Akteuren zur Verfügung stehen und wie sie miteinander verflochten sind, dies möchte ich im Vortrag entfalten.
Claudius Ströhle M. A. (Innsbruck/AUT, Berkeley/USA)
Die Immobilien der Mobilität. Über die Materialisierung und Transformation von transnationalem Alltagsleben
Der Wunsch nach einem eigenen Haus markiert den Beginn zahlreicher Migrationsprojekte. Auch im Zuge des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Österreich investier(t)en viele Migrant:innen ab den späten 1960er Jahren ihre verdienten Schilling und Euro in Baugründe, Wohnungen und Häuser in ihren Herkunftsorten, nahe- gelegenen Städten oder Küstenregionen. Zuerst genutzt, um den Urlaub zu verbringen und ein materieller wie symbolischer Ort für die (potenzielle) Rückkehr, transformierten sich die Häuser, das Mobiliar und die zuge- schriebenen Bedeutungen stetig. Diese sogenannten remittance houses haben in sozial- und kulturwissen- schaftlichen Forschungen eine zunehmende Beachtung erfahren. Wenig ist jedoch über die komplexen Interrelationen von Materialitäten, Biografien und sozialen Praktiken bekannt, die im Bau- und Wohnalltag entstehen bzw. sich dort manifestieren. Der vorliegende Beitrag widmet sich dem alltäglichen Wechselspiel von Häusern und deren Bewohner: innen und fokussiert dabei die unterschiedlichen, historisch formierten Formen von Mobilität.
Die Analyse stützt sich auf eine ethnografische Forschung, die ich im Zuge meiner Dissertation zwischen 2016–2020 in Österreich und der Türkei durchgeführt habe. Im Beitrag werden Feldnotizen, narrative Interviews und Fotografien unterschiedlicher Haus-Mensch-Biografien vergleichend in den Blick genommen, um die sich im Bau- und Wohnalltag manifestierenden, multidirektionalen Mobilitätsformen zu entschlüsseln. So ermöglichte die geografische Mobilität den Erwerb und Erhalt der Immobilien in der Herkunftsregion und erscheint somit als Materialisierung von sozialer Aufstiegsmobilität. Gleichzeitig können diese Immobilien auch als ein Ausdruck von globaler Ungleichheit und rigiden Grenz- und Arbeitsmarktregimen verstanden werden. Um die Komplexität, Ambiguität und Bedeutung der remittance houses zu verstehen, bedarf es einer detaillierten Analyse des Alltags, die hier in zweierlei Hinsicht erfolgt: Die Teilnehmende Beobachtung beim Bauen, Renovieren und Wohnen ermöglicht eine dichte Beschreibung und differenzierte Analyse von grenzüberschreitenden Lebens- und Alltagsentwürfen mit einem Fokus auf Mensch-Material-Interrelationen. Anhand von Feldnotizen meines dreimonatigen Aufenthaltes in einem dieser Häuser analysiert der Beitrag zudem die Verschränkungen von Forschungs- und Wohnalltag und zeigt dabei kritische Einsichten in die Situiertheit und Positionalität ethnografischer Wissensproduktion auf.