Sektion 4

Sektion 4 | De/stabilisierte Alltage

Dr. Christine Hämmerling, Liv Ohlsen (Hamburg)
Wer darf für wohnungslose Menschen sprechen? Ethnografische Reflexionen zu identitären Zwischenräumen am Beispiel von GoBanyo und Hinz&Kunzt

Personen, die Wohnungslosigkeit erleben, werden meist als sozial randständig wahrgenommen – als sprachlose Individuen, die nur als Teil des Gruppenlabels „Obdachlose“ hörbar werden, auch wenn ihre alltägliche Sichtbarkeit groß ist. Einzelnen von ihnen gelingt es, eine Öffentlichkeit herzustellen oder gar als legitimierte Sprachrohre für Belange von Wohnungslosen wahrgenommen zu werden. Das erfolgt vielfach über den Weg der Professionali- sierung: Sie professionalisieren sich als Repräsentant:innen für eine durch Alltag konstituierte Erfahrungswelt (Groth: „Alltag und Erfahrung“, erscheint 2023). Dass sie „professionell“ werden, ist einerseits an einen wirtschaft- lichen Aufstieg und Ausstieg aus dem Status der Wohnungslosigkeit gebunden, andererseits an veränderte Kontakte, Lebensweisen, Sprechweisen, Wissensnetzwerke etc. Es kommt zu einem komplexen Zusammenspiel von Identitäten und Repräsentationen im Dazwischen (Bhabha 2004), die der vorliegende Beitrag entlang zweier ethnografischer Visiten beleuchtet:

Eine nimmt das Projekt GoBanyo in den Blick, ein mobiles Dusch-Angebot für wohnungslose Menschen, das maßgeblich von einem ehemals Wohnungslosen initiiert wurde, der hier als öffentlicher Sprecher fungiert. Eine Zweite fokussiert das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt, dass von wohnungslosen Menschen vertrieben und teils auch gestaltet wird. Dabei wird die Frage verhandelt, wie sich die Akteur:innen im Alltag des Dusch-Projektes bzw. beim Zeitschriftenverkauf, im Miteinander mit Kolleg: innen oder in der Presse inszenieren können (müssen), um einerseits gehört und zugleich als „authentische“ Sprecher:innen für die Erfahrungswelt Wohnungs- losigkeit anerkannt zu werden. Innerhalb dieser Positionierungsprozesse werden zugleich Masternarrative über das „Leben auf der Straße“ entworfen. Beide Studien verdeutlichen entlang von teilnehmenden Beobachtungen, Interviews, informellen Gesprächen und Medienanalysen, dass Zugehörigkeit und Othering oftmals über Authentifizierungsstrategien verhandelt werden und dass der Eindruck authentischer Zugehörigkeit zu kulturell randständigen Lebenswelten mit professionellem Auftreten im Konflikt steht.

Der Beitrag basiert auf einer studentischen Studie zum Erleben von Wohnungslosigkeit im Kontext des Projektes GoBanyo (Liv Ohlsen) und auf einem Post-Doc-Projekt zur Verhandlung von Authentizität und Vertrauen in Professionalisierungsprozessen (Christine Hämmerling).

 

Dr. Lisa Riedner (München)
Konflikt und Alltag in Sozial(staats)regimen

Dieser Vortrag stellt das Forschungsprojekt „Auseinandersetzungen um ‚das Soziale‘ – Hin zu einer bewegungs- basierten ethnografischen Sozial(staats)regimeanalyse“ vor und präsentiert erste Forschungseindrücke. Die Münchner Emmy Noether Nachwuchsforschungsgruppe (DFG, 2022 –2028) arbeitet eng mit mehrsprachigen Basisinitiativen prekär beschäftigter und erwerbsloser Personen in krisengeschüttelten Städten des globalen Nordens zusammen. Vier ethnografisch Forschende werden die alltäglichen Kämpfe der Gruppen in fünf Teilstudien begleiten und dabei auf Tuchfühlung mit den multiplen Krisen unserer heutigen Zeit gehen und zentrale sozialpolitische Konflikte teilnehmend beobachten können. Ausgehend von deren Strategien für ein besseres Leben im prekären Alltag und alltäglichen Konflikten mit sozialstaatlichen Akteuren (Jobcenter, Ausländerbehörde, Wohnungsamt, Finanzpolizei, Jugendamt etc.) sollen unter Rückgriff auf Ansätze der anthropology of policy und der ethnografischen Regimeanalyse konkrete politische Felder, in denen ‚das Soziale‘ hergestellt und umkämpft wird, analysiert werden. Welche Auseinandersetzungen gibt es etwa um die Bindung des Anspruchs auf ‚Bürgergeld‘ von prekär beschäftigten und erwerbslosen Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft an die Erwerbstätigeneigenschaft? Wie artikulieren sich diese im Alltag städtischer Erwerbslosenbewegungen? Welche Rolle spielen dabei Vorstellungen von Arbeit und Nicht-Arbeit, von Geschlecht und Familie, von Nation und Europa? In Bezug auf das Thema der Tagung: Wie wird Alltäglichkeit (und /oder ihre Unterbrechung) angerufen und hergestellt? Mit diesen Fragen verfolgt das Forschungsprojekt auch einen konjunkturanalytischen Ansatz: Was erzählen diese komplexen Auseinandersetzungen über aktuelle Konjunkturen des Rassismus, der Prekarisierung und der Geschlechterverhältnisse? Zum Zeitpunkt des Kongresses werden drei Ethnograf*innen voraussichtlich bereits etwa fünf Monate in Berlin, Frankfurt und Oldenburg bewegungsbasiert geforscht haben, so dass erste Eindrücke und Reflektionen zur Diskussion gestellt werden können.

 

Alexandra Regiert M. A. (Regensburg)
Beziehungsalltage als Hauptschauplätze der (Re-)Produktion und Aushandlung von Geschlechterungleichheiten (1945 –1999)

„Das Private ist politisch“ – bereits die zweite Welle der Frauenbewegung rückte Mann-Frau-Beziehungen mit der Kernforderung, tradierte Rollenbilder und insbesondere die Grenzen zwischen genderspezifischen Tätigkeitsfeldern im Alltag aufzubrechen, in das Zentrum feministischen Interesses. Inwieweit und in welchen Bereichen sich geschlechteregalitäre Ansprüche in der gelebten Wirklichkeit manifestierten, bleibt gleichwohl disputabel. In der problemlösungsorientierten, „historisch argumentierende[n] gegenwartsbezogene[n] Disziplin“ (Schmidt-Lauber) der Vergleichenden Kulturwissenschaft sind empirische Studien, welche die Paarbeziehung als Analysekategorie jener historisch gewachsenen Ungleichheiten in den Blick nehmen, bislang rar gesät, wenngleich die Genderforschung zu einer ihrer Leitperspektiven avanciert ist.

Als soziales, kulturell überformtes Gebilde (Burkart) unterliegt das Paar neben individuellen Aspekten in seiner Konstitution dem Einfluss „meso- und makrostrukturelle[r] Rahmenbedingungen“ (Motakef/Wimbauer), ist Prozessen wie Kapitalismus, Globalisierung oder Digitalisierung unterworfen und fungiert – vor allem in hetero- sexuellen Konstellationen – als „Schaltstelle für die (Re-)Produktion von Geschlechterungleichheiten“ (Ebd.), wobei sich dies im Sinne eines Doing Gender oder Doing Couple insbesondere in alltäglichen Aushandlungen vollzieht.

Gemäß der Fokussierung des DGEKW-Kongresses auf „Analysen des Alltags“ gehe ich anhand von im Rahmen meines Promotionsprojektes erhobenen biografisch-narrativen Interviews mit männlichen wie weiblichen Befragten (* 1935 –1975) der Frage nach, inwiefern kulturelle Leitbilder und normative Erwartungen, wie Ehen und Paarbeziehungen geführt, Konflikte ausgehandelt und Krisen überwunden werden sollen, mit den Alltagserfahrun- gen der Beziehungsführenden kontrastieren; dabei werden insbesondere die Wahrnehmungen und Reflexionen von Geschlechterungleichheiten im Spannungsfeld von Erwerbs-, Care- und Beziehungsarbeit unter Herausarbeitung zeit- und milieuspezifischer Prägungen in den Fokus gerückt. Ausgehend von einer interdisziplinären Schnittstelle zur Mentalitäts- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik zeigt die geplante Präsentation durch das dezidierte Verfolgen einer Binnenperspektive und die narrative Beschreibung der Beziehungsalltage von „innen“ heraus überdies auf, inwiefern es die Großerzählung linear verlaufender emanzipatorischer Prozesse zu relativieren gilt.

TU Dortmund

TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)
TU Dortmund, Emil-Figge-Straße 50 (Foto: Roland Baege)

keuning haus

Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund
Dietrich-Keuning-Haus, Dortmund