Sektion 5 | Strategien der Anpassung
Sina Denise Holst M. A. (Berlin)
Herausforderungen und Chancen komplexer Erinnerungskulturen im Anthropozän
Im Rahmen meines PhD Projektes Ökologien des Erinnerns forsche ich in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Verbinden Gedenkstätten an sich verschiedene Zeiten miteinander, so lässt sich an dieser Gedenkstätte eine herausragende Komplexität sowohl verschiedener Zeit-Ort-Beziehungen als auch diverser erinnerungskultureller Zugehörigkeiten und Politiken beobachten. 2021 und 2022 habe ich in der Gedenkstätte Daten erhoben (Teilneh- mende Beobachtung, Interviews, Feldnotizen), geleitet von der Frage, wie Menschen, Dinge und Naturen zeit-handeln, das heißt, wie sie in Interaktion miteinander zu temporalen Akteuren werden. Als Forschende fiel mir dabei die aufschlussreiche Position zwischen Alltag und Ereignis zu: herausgelöst sowohl aus der alltäglichen Routine der KonservatorInnen, Tour Guides und des Sicherheitspersonals, als auch aus der Erfahrung der Ereignishaftigkeit, mit der die meisten Besucher_innen die Gedenkstätte, oft nur einmalig, erleben. Ich konnte beobachten, wie sich die Besuchserfahrung und die alltägliche, routinierte Arbeit in der Gedenkstätte wechselseitig hervorbringen, bedingen, informieren und ausblenden.
In meiner Forschung beschäftigt mich besonders, wie Dinge und Naturen in der Gedenkstätte zu zeitlichen Akteuren werden, wie ihnen Zeit ‚innewohnt‘, in welchen Praktiken sie zu Zeugen ernannt werden und wie diese dingliche und natürliche Zeugenschaft zu verstehen ist. Neben dem Begehen des Geländes, das die Ausmaße des Verbrechens räumlich erahnbar macht, vermittelt die Begegnung mit sogenannten Massenobjekten den Besuchenden den Grauen des ehemaligen Vernichtungslagers: Berge von Koffern, Schuhen, Töpfen, Brillen. Diese Objekte entfalten gerade aufgrund ihrer Alltäglichkeit einen besonderen Schrecken, der sowohl auf die Möglichkeit der Transformation von Alltag zu Ereignis hinweist, als auch wieder auf die, hier zumeist unsichtbare, alltägliche Arbeit, die in Form konservatorischer Praxis diese Gegenstände erhält.
In dieses bereits komplexe Verhältnis von Alltäglichkeit und Ereignishaftigkeit, Gewohnheit und Horror, interve- nierten wiederum die sich in den vergangenen Jahren akkumulierenden Krisen – Klimakrise, Covid-Pandemie, Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. In meinem Konferenzbeitrag möchte ich Einblicke darin teilen, welche Erkenntnisse zum Verhältnis von Alltag, Ereignis und Krise sich aus der Gedenkstättenpraxis ableiten lassen und welche Herausforderungen und Chancen komplexe Erinnerungskulturen im Anthropozän erwarten.
Laila Gutknecht M. A. (Zürich/CH)
Lokale Ernährung als Krisenstrategie: Klima, Krieg und Pandemie
Wie und warum zeigen Menschen in Krisenzeiten Tendenzen, sich dem Lokalen, dem Nahen und Gewohnten zuzuwenden – insbesondere in Bezug auf die Ernährung? Der Vortrag untersucht, wie durch die Fokussierung auf lokale Werte in Krisenzeiten alltägliche Sicherheit gesucht wird und Ohnmachtsgefühle durch die Auslotung der individuellen Handlungspielräume bekämpft werden. Er fragt danach, wie die Praktiken, Erzählungen und Wertvorstellungen des Lokalen soziale Positionierungen generieren, welche zur Konstruktion und Festigung individueller sowie kollektiver Identitäten beitragen. Der Vortrag nimmt dafür exemplarisch den Umgang mit drei der aktuellen großen Krisen in den Blick – die Klimakrise, den russischen Angriffskrieg und die Corona- Pandemie – und bezieht sowohl die Diskurse als auch die Praktiken sowie deren Verflechtungen in die Analyse mit ein.
Das Lokale wird in Hinblick auf die genannten Krisen unterschiedlich, teils auch widersprüchlich verhandelt. In Bezug auf die Klimakrise wird lokal oft als klimafreundlichste Option präsentiert. Diese durch strukturelle und finanzielle Hürden längst nicht allen zugänglichen Praxen, werden mit dem Lifestyle des urbanen, klimabe- wussten Menschen assoziiert. Um Identitätskonstruktion in einem anderen Sinne geht es auch beim Hinblick auf den Krieg. Auch wenn die Schweiz sich als neutrales Land positioniert, werden nationale Konflikte und Loyalitäten vermehrt diskutiert und Fragen nach Abhängigkeitsverhältnissen und Liefersystemen geraten im Kontext von Boykott und Sanktionen in den Fokus alltäglicher Verhandlungen. Die Pandemie fungierte ihrerseits als Katalysator des Lokalen, durch Verstärkung des Nachbarschaftsgedanken und einer Verschiebung des Bildes der ‚weiten Welt‘ von Verlockung zu Bedrohung.
Der Vortrag zeichnet zuerst unterschiedliche Dimensionen der Lokalen Ernährung nach, um anschließend einen Einblick in Medien und Praktiken der Lokalität und des alltäglichen Konsums im Zusammenhang der genannten Krisen zu geben. Dies geschieht einerseits diskursanalytisch, andererseits werden Alltagspraktiken von Akteur:innen sowohl auf Konsument:innen- als auch auf Produzent:innenseite beleuchtet. Das empirische Material stammt aus meinem 2021 begonnenen Dissertationsvorhaben zum Thema „Lokale Nahrungskulturen im urbanen Raum Zürich“. Es gibt noch keine Veröffentlichungen dazu.
Dr. Ruzana Liburkina (Frankfurt/M.)
Neuer Arbeitsalltag ‚in der Mache‘: Ein organisationsethnografischer Blick auf strategische Veralltäglichung in einer Biobank
Was passiert, wenn der Arbeitsalltag in einer Organisation signifikant verändert, fast schon neu erfunden werden soll? Mit der Einführung eines neuen einzulagernden Präparats in einer klinischen Biobank sahen sich deren 19 Mitarbeiter*innen im Jahr 2020 mit der Herausforderung konfrontiert, neue Arbeitsabläufe und -strukturen zu implementieren. Doch die bloße Implementierung reichte nicht; zentral war vor allem auch deren Veralltäglichung. Nicht frisch oder experimentell sollten jene Abläufe wirken, sondern gut bekannt, routiniert, verinnerlicht. Genau das steht nämlich aus regulatorischer Sicht im Vordergrund: Eine für neue klinische Projekte notwendige behördliche Genehmigung wird daran geknüpft, wie überzeugend die vollbrachte Veralltäglichung des Neuen im Zuge von Inspektionen vermittelt wird. Sitzt der rasche Griff in die richtige Schublade, wenn eine Pipette benötigt wird?
Der Beitrag speist sich aus organisationsethnografischem Material zur biotechnologischen Projektentwicklung in einer Stammzellbank in Deutschland. Ähnlich wie Katrin Amelangs (2014) Studie zu Veralltäglichungsprozessen nach Lebertransplantationen, widmet er sich der spezifischen Situation, in der auf Alltag beharrt wird. Im Beson- deren wurde Veralltäglichung in meinem Feld nicht nur mühevoll erarbeitet, sondern auch eingefordert und strate- gisch geplant. Vor diesem Hintergrund diskutiere ich, was es bedarf, um Neues, Unbekanntes einzuüben und Harterarbeitetes auf Kommando alltäglich werden zu lassen. Zum anderen thematisiere ich die Merkmale des daraus resultierenden liminalen Alltags – der „Durchgangssituation“ (ebd., 231), die die Schwelle von vertrauten Routinen zur neuen Arbeitsorganisation markiert. Ein solcher Übergangsalltag, geprägt von Testläufen und Alltagssimulationen (ebd.), glich in meinem Feld einem langanhaltenden Ausnahmezustand.
Über die konkrete Fallstudie hinaus nimmt der Vortrag eine Reflexion über Veralltäglichung als institutionalisierte Norm und standardisierten Prozess in beruflichen Kontexten vor. Konzeptuell steht die Frage nach der Ein- und Abgrenzung des Alltagsbegriffs im Mittelpunkt: Sind unter Zugzwang und Zeitdruck geplante Arbeitsalltage noch als solche zu bezeichnen oder ist der Begriff dem Impliziten vorbehalten sowie Taktiken und Praktiken, die sich „an den Rändern“ (Beck 2000, 183) strategischer Kerngeschäfte abspielen? Welchen Stellenwert haben Alltage in zeitlich begrenzten Übergangssituationen, die sich um das Einüben neuer Alltage formieren?