Workshop 5 | Mobilitätsrechte und Alltage im Ausnahmezustand: Zu einer relationalen kulturanthropologischen Krisenanalytik (von der Grenze aus)
Workshopleitung: Prof. Dr. Sabine Hess (Göttingen) und DGEKW-Kommission „Europäisierung_Globalisierung: Ethnografien des Politischen“
Beitragende: Prof. Dr. Sabine Hess, Dr. Jens Adam, Dr. Jérémy Geeraert, Valeria Hänsel
Diskutandin: Prof. Dr. Michi Knecht
Migration und Flucht sind in den gegenwärtigen Debatten europäischer Gesellschaften wie nur wenige andere Themen aufs Engste mit einem Krisennarrativ verbunden. Dabei zeigt das schnelle Labelling der Situation, als in den Jahren 2015–2016 über Millionen FluchtmigrantInnen nach Europa kamen, als „größte europäische Flüchtlingskrise“ (Sandberg / Andersen 2020; Hess / Kasparek 2017), dass vor allem die Flucht und ihre Folgen als Krise für die aufnehmenden Gesellschaften verstanden wird. Andererseits hat nicht erst die Covid-19-Pandemie und der gesundheitspolitische Umgang hiermit die Fragilität von Mobilitätsrechten klar vor Augen geführt. Auch viele ethnographisch-migrationswissenschaftliche Studien über die politische Regulation der Fluchtbewegungen 2015/2016 im Sinne einer „crisis governance“ (Panizzon / van Riemsdijk 2019) und ihre Konsequenzen für die Alltage geflüchteter Menschen weisen auf multipel gelagerten Krisen hin: es ist nicht nur eine Krise des Rechts, und eine damit einhergehende Prekarisierung des Lebens, sondern auch eine Krise demokratischer gesell- schaftlicher Ethiken und moralischer Ökonomien, die auch mit der Kriminalisierung von humanitären Hilfspraktiken einhergeht.
Das Krisennarrative andererseits erscheint jedoch weiterhin höchst produktiv, um im Sinne von Didier Fassin politisches und rechtliches Handeln im Modus einer „exceptional politics“ zu praktizieren (Fassin /Pandolfi 2010), die Krise als Legimitation für ein spezifisches politisches Handeln nutzt, welches oftmals bis dahin als nicht durchsetzbar erschien – hier wird „Krise“ zu einem game changer; Die US-amerikanische Anthropologin Elisabeth Dunn weist ferner auf einen gängigen Praxis-Effekt von Handeln im Modus der Krise mit ihrem Konzept der „Adhocracy“ hin, wie es Forschungen zu den Praktiken und Implementierungen der nach-2015 Migrations- und Asylpolitik in den lokalen Settings auch beobachten. Die kulturanthropologische kritische Migrationsforschung sowie praxis-orientierte Ansätze zeigen darüber hinaus auf eine grundsätzliche strukturelle Krisenförmigkeit des Migrationsregimes in Folge der Strategien und Taktiken derer hin, die es durch ihre Fluchten permanent herausfordern (Sciortino 2004). Ethnographische Forschung zu solidarischen Praktiken und „Kämpfen der Migration“ andererseits machen deutlich, wie unter dem Eindruck der sozialen und rechtlichen Prekarisierung und Krisen-bedingten Unsicherheit vielfach Widerstandspraktiken auf eine Stabilisierung des Alltags abzielen und hierzu zunehmend über das Feld des Rechts agiert wird (Binder 2017).
Die in dem Workshop versammelten anthropologisch-ethnographisch basierten Beiträge zu Alltagsphänomenen der Migration, Flucht sowie solidarischen Handelns im europäischen Raum adressieren unter Rückbezug auf Perspektiven der Anthropology of Policy und legal Anthropology sowie der ethnographischen Grenzregime- forschung verschiedene Facetten der Krisenhaftigkeit von Mobilitätsrechten und ihre alltäglichen Aushandlungen. Damit will der Workshop auch zu einer kulturanthropologischen Krisenanalytik beitragen und die multiplen Dimensionen, Deutungen von „Krise“, ihre innewohnenden Temporalitätsannahmen sowie ihre grundsätzliche Relationalität durch eine praxisorientierte Analytik schärfen.
Jens Adam wird die eklatante Ungleichbehandlung der Grenzübertritte unterschiedlicher Gruppen von Migrant_innen/Flüchtenden in Polen als eine Krisensituation diskutieren, die ethnografische Zugänge zur Untersuchung von Verschiebungen innerhalb der moralischen Ökonomie, in der Mobilitätsrechte verhandelt werden, bietet.
Jérémy Geeraert wird am Beispiel der Kriminalisierung von humanitärer Seenotrettung (S & R) im Mittelmeerraum diskutieren, wie europäische Behörden und die Vielfalt der rechtlichen Instrumente gegen die zivilgesellschaftliche Seenotrettung ein sich ständig veränderndes rechtliches Umfeld geschaffen haben, und wie Aktivisten in diesem Kontext der Krisen-induzierten Politik herausgeforderten sind, sich immer wieder neu anpassen zu müssen.
Valeria Hänsel wird anhand ihrer Forschungen zur rechtlichen Konstruktion der griechischen Inseln als Sonderrechtszone, zur Diskussion stellen, wie in diesem Kontext „Krise“ als produktive Regierensweise von institutionellen Akteuren in Praktiken übersetzt wird, und wie sich unter diesen Bedingungen die Terrains, scripts und Praktiken der Solidarität verändern.